Graffiti und Street Art in München – wie alles begann…
München wird in den Medien immer wieder als Geburtsstadt der deutschen Graffiti-Bewegung bzw. der deutschen Street Art-Szene bezeichnet. Um solch einem ranghohen Titel vor der Sprayer-Stadt Berlin überzeugend verteidigen zu können, bedarf es mehrere stichhaltige Argumente.
Der erste Beleg hierfür findet sich in einem Zeitungsartikel vom 22. Dezember 1970. Darin berichtete die Münchner tz über das geheimnisvolle Wort „HEIDUK“, das überall in Schwabing und Lehel an Hauswände, Brücken sowie auf Gehwege aufgesprüht war. Ganz München befand sich aufgrund dieser Graffiti in Aufruhr und rätselte lange Zeit über die Bedeutung. Verantwortlich für diese „Heiduk-Mania“ war eine Münchner Kommune aus der Adlzreiterstraße im Schlachthofviertel, die sich damit einen Scherz erlaubte.1 Die Medienpräsenz von „HEIDUK“ motivierte viele Nachahmer dazu dieses geheimnisvolle Wort in ganz München und über die Stadtgrenze hinaus zu verbreiten. „Hajduk“ steht im südosteuropäischen Sprachgebrauch für „Gesetzlose“ oder „Aufständische“ – eine Bezeichnung, welche gewissermaßen auf die zukünftige jugendliche Subkultur zutrifft, die ein Jahrzehnt später auf gleiche Weise München erobern wird. Dieser Vorfall geht somit völlig ungeplant als erstes medienwirksames Graffiti-Phänomen in die Stadtgeschichte ein.
Ánh Nguyenmit Münchner Street Art Legenden: v.l.n.r. Beastiestylez, Ánh Nguyen, Eazy, Loomit; im Auftrag von Freunde Haus der Kunst e.V. für Sommerfest 2018 (©Anh von der Bank)
1984 lud der Galerist Raimund Thomas die Hauptakteure der New Yorker Graffiti-Szene in die Maximilianstrasse 25 nach München ein. Zur Eröffnung der Ausstellung „American Graffiti Sprayers and High Graffiti Artists“ gestalteten die Sprayer in einer Live-Painting- Aktion Stellwände vor der Galerie – und das direkt in unmittelbarer Nähe zu den edelsten Geschäften der Stadt! Schon damals prophezeite Thomas den triumphalen Einzug dieser
rebellischen Sprayerkunst in die zukünftige Museumslandschaft.2
Inspiriert durch den Film „Wild Style“ besprühten sieben Jugendliche unter den Pseudonymen Cheech H, Blash, Roy, Don, M. Zaza, Roscoe, Zip und Cryptic2 in der Nacht vom 24. März 1985 bei Geltendorf eine S-Bahn auf einer Länge von 54m mit Graffiti. Der Geltendorfer Zug ist seither bekannt als der erste 3 „graffiti whole train“
Deutschlands und führte bei der Münchner Bahnpolizei zur Gründung der ersten nationalen Sonderkommission Graffiti. Einer der Hauptbeschuldigten, Cryptic2 (Mathias Köhler aka Loomit), erlangte seit seiner Verurteilung in diesem Fall hohe Anerkennung in der Szene (Fame). Dies ebnete ihm eine steile Karriere als Graffiti-Legende und
angesehener Street Art Künstler Münchens. Noch im selben Jahr entstand auf dem Flohmarktgelände an der Dachauerstrasse (heute: Verwaltungsgebäude der Bundeswehr) die größte Wall of Fame Europas, wo Sprayer legal sprühen durften. Nach dem Abbruch des Geländes 1989 folgten weitere Walls of Fame wie im ehemaligen Kunstpark Ost, auf dem Schlachthofgelände mit dem Bahnwärter Thiel an der Tumblingerstrasse und die
Brudermühlbrücke.4 Diese Entwicklung ist unter anderem dem Volkskundeprofessor Peter Kreuzer und dem Strafverteidiger aka „Graffiti-Anwalt“ Konrad Kittl zu verdanken, die bereits 1983 regelmäßig Fotos von Graffiti Pieces wie zum Beispiel von RAY festhielten.1986 gründeten sie gemeinsam die Euro-Graffiti-Union (EGU). Mit ihrem Verein förderten sie junge Graffiti-Künstler durch Auftragsvermittlung und setzen sich für legale Graffiti und
Street Art Flächen ein.5
In Westberlin dagegen waren seit den 1960ern zwar Sprüche und bildliche Motive an Häuserwänden zu finden, jedoch wiesen diese keine typischen Einflüsse der Graffiti-Bewegung auf. Erst mit dem Fall und der Bemalung der Mauer kam auch die Kulturwende in Berlin an und sorgte für eine explosionsartige Ausbreitung von Graffiti sowie
Subkulturen.6
2017 ging das Wetteifern zwischen der Bayerischen Landeshauptstadt München und der Bundeshauptstadt Berlin um die Vorreiterrolle in der Street und Urban Art Szene in eine neue Runde. Mit knappem Vorsprung eröffnete in München das Museum of Urban and Contemporary Art - MUCA im provisorischen Rohbau mit einer kleinen Ausstellung, um sich vor Berlin den Titel als Deutschlands erstes Urban Art Museum zu sichern. Im Gegensatz dazu feierte das Urban Nation - Museum for Urban Contemporary Art in Berlin seine Eröffnung einige Monate später mit einer aufwändigen Vernissage und präsentierte dem Publikum eine große Fülle an Kunstwerken.
Welche Stadt nun letztendlich das erste Urban Art Museum Deutschlands beherbergt, dürfte in der öffentlichen Meinung noch für viele Diskussionen sorgen. Denn nicht immer entspricht das unkonventionelle Gesamtkonzept dieser neuen Institutionen der Vorstellung des klassischen Museums, wie ein Zitat der Positiven-Propaganda e.V. München zeigt:
"Durch die zunehmende Kommerzialisierung dieser mittlerweile 'hippen' Kunstform
durch die Werbeindustrie, als Museum getarnte Galerien (…) ging allerdings der
eigentliche Hintergedanke dieser autonomen Bewegung verloren (…)" 7
Im Vergleich zu München wird das Ausstellungskonzept in Berlin den musealen Anforderungen nach dem weltweit anerkannten „Ethischen Richtlinien für Museen“ deutlich gerechter. Daher dürfte dieser Punkt genauer betrachtet zwar an Berlin gehen, jedoch hat sich München den Titel als Wiege der deutschen Graffiti-Bewegung zweifelsfrei gesichert. Aktuell herrscht in der Kategorie Street und Urban Art somit Gleichstand zwischen München und Berlin. Mit Ausblick in die Zukunft dürfte dieses Kopf-an-Kopf-Rennen beider Kulturstädte nach wie vor spannend bleiben.
Ánh NguyenVortrag über Street Art in München für den Verein Von Beruf Kunstvermittlung e.V. (Foto: ©Florian Schröter)
Ein Artikel von Gastautorin Ánh Nguyen
Art Management & Consulting
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1 https://www.spiegel.de/geschichte/fruehe-graffiti-a-947903.html
2 Thompson, Margo: American Graffiti; Parkstone International; New York; 2012; S. 245.
Ermittlungsbericht der Kriminalpolizeidirektion München vom 28.06.1985:
3 https://www.spiegel.de/geschichte/geltendorfer-zug-erster-graffiti-wholetrain-in-deutschlanda-1258605.html#fotostrecke-a13135fc-0001-0002-0000-000000167621; Foto 5/22.
4 https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-kunst-graffiti-stadtfuehrung-1.4826500
5 http://kg.ikb.kit.edu/downloads/Papenbrock_Kikol_Graffiti%20NOW.pdf; S. 101-107.
6 https://taz.de/Graffiti-in-Berlin/!5477341/
7 https://www.positive-propaganda.org/agenda-pp2.html - Homepage des gemeinnützigen Kunstverein für Street Art in München
quadratisches Teaserbild: ©Anh von der Bank, geschossen an der Donnersbergerbrücke